Frankfurt, 10.10.1979 (kpf, TOPICS) – Nicht alle Manager sind technologisch ersetzbar. Wer ist am meisten gefährdet? Thesen zur stummen Revolution der Geschäftsführung.
EIN GESPENST geht um in Europa,
doch es heißt nicht mehr»Kommunismus«.
Von diesem alten Phantom ist inzwischen
nichts Rätselhaftes, nur noch sehr
Gewisses zu befürchten. Das Gespenstische
in unserer Wirtschaftsordnullg trägt
einen anderen Namen. Für viele ist es das
Wort „Innovation“, Arbeiter und Angestel
he, Vertriebsleiter und Personalchefs
verbinden mit dem Begriff eine ebenso
nebulöse wie belastende Vorstellung. Sie
setzt sich aus Fortschritt und Rationalisierung,
unverständlicher Technik und
Arbeitsplatzverlust zusammen, und Inno-
vation wurde für sie zu einem Gleichnis
unmenschlicher Modernität.
Die Führungskräfte haben jedoch die
Chancen und Gefahren technischer In novationen
bisher nicht auf ihre eigene
Zukunft bezogen. Während Setzer und
Drucker schon auf die Straße gingen, um
ihren Berufsstand vor den Auswirkungen
der Mikroelektronik zu schützen, wäh-
rend in der Uhreninduslrie Fabriken
schließen mußten, weil sie den Innovationsdruck
zu spät erkannten, glauben die
meisten Manager noch, daß ihre Karriere
von all dem verschont bleibt. Bekümmert
können sie darüber nachdenken, daß in
ihrem Werk bald einige hundert Arbeiter
durch Montageautomaten freigesetzt werden,
doch auf die Idee, das mit selbst zu verschwinden,
kommen sie kaum. Warum
auch? Lenken sie etwa nicht das Unternehmen?
Gibt es denn keine Hierarchien, die
alle Stöße von technischen und organisatorischen
Erschülterungen nach oben hin
abfangen?
Gegen diese arglose Hoffnung soll hier
die These vertreten werden, daß gerade die
traditionelle Rolle der Führungskräfte am
stärksten durch Innovationen gefährdet
ist. Weit mehr als ein Facharbeiter wird ein
erfolgreicher Manager durch die künftige
Technologie in Frage gestellt, wenn er
deren Tendenz nicht bei seiner Karriereplanung
berücksichtigt. Wir wollen deshalb
diesen Zusammenhang etwas genauer
untersuchen, um daraus Konsequenzen
für die Führungspraxis zu ziehen.
\Vas ist eigentlich mit Innovation gemeint?
Keineswegs jede Produktidee oder
Neuerung hat mit dem historischen Prozeß
zu tun, der hier zur Debatte ste ht.
Wenn man die Geschichte der Technologie
überblickt, so zielten die wesentlichen
innovativen Leistungen früherer Epochen
auf die Substitution bestimmter menschlicher
Arbeiten durch Maschinen. Zunächst
gelang es nur, die Kraft bei besonders energieintensiven
Vorgängen zu ersetzen.
Durch die Entwicklung der Mechanik
konnten später auch Bearbeitungsabläufe
maschinell rekonstruiert werden. Erst in
der industriellen Welt unseres Jahrhunderts
wurde aber eine höhere menschliche
Fähigkeit technologisch erfaßt und damit
tendenziell ersetzbar: die Intelligenz,
Die entscheidende Innovation, deren
Zeugen wir gegenwärtig sind, ist das immer
stärkere Vordringen der Mikroelektronik
in alle Lebens- und Arbeitsbereiche. Die
Entwicklung intelligenter Maschinen ist
dabei nur eine der vielen Auswirkungen.
Was dies bedeutet, ahnen wir allmählich.
Die stumme Revolution der Elektronik
greift fortschreitend so tief in alle instrumentellen
Lösungen ein, die wir in der bisherigen
Geschichte gefunden haben, daß
mit ihr das mechanische Weltbild erschüttert
wird: Eine vollständig neue Technologie
macht ganze M’lschinensysteme über-
flüssig und erzwingt ein Umdenken bei der
Konstruktion der Zukunft, das wir nur
mühsam vollziehen können.
Viele Zwitterprodukte markieren gegenwärtig
den Weg dieser Innovation und
erinnern überdeutlich daran, daß wir uns
erst in der ersten Phase der Technologienutzung
befinden. Am Übergang von der
mechanischen zur elektronischen Uhr
kann man beispielhaft die Schwierigkeiten
des Umdenkens, aber auch die geforderte
schnelle Anpassung studieren: Wie die
Zeiger erst durch blätternde Zahlen, dann
diese durch Leuchtdioden und schließlich
durch Kristalle ersetzt wurden. Wie auch
die elektronischen Bausteine erst in der
dritten Generation kreativ genutzt werden
und zu ganz neuartigen Uhrentypen ohne
jede Mechanik führen. All dies vollzog
sich dennoch in so kurzer Zeit, daß manches
Unternehmen, das heute noch auf die
Präzision seiner Stahlfeder pochte, ein
halbes Jahr später nicht mehr am Markt
war.
Das Weselltliche an diesem Innovalionsvorgang
ist die Kraft, mit der er den
ganzen Wirtschaftsprozeß umkehrt. Forderten
früher die Bedürfnisse der Gesellschaft
von der Wirtschaft eine bestimmte
technologische Lösung (G-W- T), so ist
das Verhältnis in manchen Branchen berei
ts auf den Kopf gestellt: Die Eigendynamik
der Technologie führt zu schnelleren
Produktzyklen und zu differenzierteren
Verbraucherwünschen (T -W -G). Die
Unterhaltungselektronik ist dafür ebensosehr
ein Beispiel wie die Fotoindustrie.
Dieser Trend der Innovation zu intelligenteren
Produkten hat entscheidende
Auswirkungen auf das Management. Er
bedeutet ja, daß der Markt individualisiert
wird und daß seine Zielgruppen nur durch
ein sehr präzises Instrumentarium noch
richtig anzusteuern sind. Der Bereichsleiter,
der sich Marketingchef nannte,
konnte bisher tatsächlich oft als starker
Mann Erfolge erzielen. Seine Erfahrung
leitete ihn meist in die Richtung verkaufbarer
Produkte, und wenll er die erforderlichen
Stückzahlen nicht absetzen konnte,
fand sich immer noch ein Sündenbock in
der Produktion oder in der Entwicklung.
Doch in den Innovationsbereichen wandelt
sich das strategische Wissen so schnell,
daß die Erfahrung ihm nicht mehr gewachsen
ist.
Daraus läßt sich für das Management
die praktische Folgerung ableiten: Der individualisierte
Markt wird von jeden Führungskräften beherrscht werden, die ihre
Entscheidungen auf die meisten Informationen stützen. Sie werden sich
an Produkt-,
Markt- und Technologieanalysen zu orientieren
haben und das größte Problem wohl
darin sehen, adäquate und aussagestarke
Daten zu gewinnen und Sie richtig zu
verarbeiten.
Heute sind die Entscheidungsträger
häufig noch dadurch überlastet, daß sie
keinen Zugang zu den richligen Informationen
finden. Das Management ist über
Jahrzehnte fast ausschließlich darauf trainiert
worden, Verteilungsprozesse zu
steuern. Es verfügte weder über die richtigen
Informatiollskanäle noch über die
Datendichte, die erst eine klare Lösung
ermöglichen. Die Verwaltung des Wissens
stellt deshalb ein Hauptproblem dar.
In der künftigen Unternehmenspraxis
wird dieses Problem zu technologischen
Wegen führen, die auf das Seibstverständnis
der Führungskräfte zurückwirken. Die
größten Engpäße im Informationsfluss sind die
Hierarchiestufen. Sie werden im gleichen Maße
wie der Zugriff zu entscheidenden Informationen
wächst. Wenn der
Verkaufsslellenleiter in der Provinz sich ge~
nauso mit dem Computer kurzschließen
kann wie der Marketingchef der Zentrale – wozu
braucht das Unternehmen dann
noch alle Zwischenstufen, wozu die Organi
sation nach Regionen?
Im klassisch-hierarchischen Management
war der Manufacturing Vice Presidem
der natürliche Gegner des Vice President
Engineering. Wenn aber der Informationsdruck
der Ablallfsteuerung von
einem Computer getragen und an Automatenbänder
und Punktschweißroboter
weitergegeben wird – wozu brauchen sie
dann noch das Heer der Meister und
Arbeitsvorbereiter, um ihre Kämpfe auszutragen?
Wozu auch die Kämpfe?
Informationscomputer werden einen
Zustand herbeiführen, in dem viele Hierarchien
nur noch künstlich, also befristet zu
halten sind. Alle Supervisor-Funktionen
sind tendenziell von intelligenten Maschinen
bedroht, weil sie diese Arbeir besser
ausführen. Gedächtnisse lassen sich bauen,
und der Manager wird nicht mehr der alleinige
Träger des Wissens sein. Im horizontal
organisierten Unternehmen, in dem
viele den notwendigen Datenzugriff erhalten,
bricht die Macht derer zusammen, die
ihre Autorität auf das Drosseln von Informationen
bauten.
Wer das Wissen von anderen fernhält
statt es kreativ einzusetzen, hat kaum noch
Karrierechancen. Die Datenverknüpfung
der kleinen Produktionseinheiten mit dem
Marketing und Vertrieb des Konzerns wird
ihn selbst isolieren. An das Management
in den innovativen Bereichen treten deshalb
neue Anforderungen. Wie wird es
aussehen?
Die meisten Führungskräfte sind heute
noch als Spezialisten ausgewählt und entsprechend
eng eingesetzt. Diese eindimensionale
Wahl hat aber wenig Zukunft.
Wenn es darauf ankommt, intelligente
Produkte in ganz individuellen Marktnischen
zu platzieren, müssen viele abrufbare
Informationen eine kreative Verbindung
eingehen, muß der entscheidende Manager
selbst multiple Funktionen ausüben
können. Er wi rd sich über den Markt in
einem viel weiteren Sinne orientieren müssen,
als er es bisher tut. So kann ein
Forschungsleiter der Fotoindustrie nicht
mehr darauf verzichten, die neuesten Tendenzen
der Mikroelektronik zu verfolgen.
Er muß seinerseits wieder Aufgaben mit
Freiheiten vergeben, um die Produktivität
seiner Mitarbeiter nicht an die hierarchische
Kette zu legen.
Wenn wir eingangs die These aufstellten,
daß der Manager weit mehr als der
Facharbeiter durch die Innovation gefährdet
ist, so wird der Grund hier sichtbar. Er
kann seine erlernten Fähigkeiten nicht wie
ein Feinmechaniker aus der Uhrenindustrie
rie in eine noch unbekannte Präzisionsbranche
hinüberretten. Er wird ganz gefordert
und kann vollständig versagen. Seine
künftige Wirksamkeit hängt deshalb
davon ab, wie weit er sich selbst als Innovation
begreift.
1979-10-10_TOPICS-A14S5f_Das-Ende-der-hierarchischen-Führung