Der Autor dieses Artikels, Dr. Thomas von Randow, beschreibt bereits 1982 die Problematik, verlässlich Innovationsentwicklungen vorherzusagen. Er nennt eine Fülle von Fehlprognosen und ebensolcher Methoden, wie beispielsweise die sogenannte „Delphi-Methode“, und ihre Erfinder. Trotz einer hohen Kenntnisdichte zeichnet den Artikel ein verständlich Sprache aus. Der Text und die Zeichnungen sind  ein Lesegenuss. Der Artikel ist im dialog-Magazin der ehemaligen Nixdorf Computer AG, Paderborn, 1982 erschienen. (Eduard Heilmayr)

Debakel mit dem Orakel

Paderborn, 1982 (Dr. Thomas von Randow, dialog-Magazin) – „Der Kluge horcht nach der Vergangenheit, wandelt in der Gegenwart, denkt aber an die Zukunft“, sagt ein italienisches Sprichwort. Menschen, die zu ergründen versuchen – oder zu wissen vorgeben -, was die Zukunft bringt, sind denn auch in allen Kulturen als Weise oder gar Heilige verehrt worden. Der aufgeklärte Zeitgenosse amüsiert sich allenfalls über die kleingläubigen Herrscher der Antike und des Mittelalters, die vor ihren Entscheidungen bei Propheten und Sehern Rat holten. In Wahrheit aber verhält sich der moderne Entscheidungsträger nicht anders. Zwar nennt er seine Ratgeber heute nicht mehr Propheten, sondern „Planungsvorgaben“ oder „Trendanalysen“, aber er bedarf ihrer weitaus dringlicher als die alten Könige und Krieger, weil sich im vielfältig verzahnten Komplex der Industriegesellschaften die Folgen einer Fehlentscheidung wie eine fatale Seuche verbreiten können.

Diese Einsicht hatte in den

sechziger Jahren Wissenschaftler dazu

angeregt, die Möglichkeit einer systematischen

Vorhersage künftiger Ereignisse

zu erkunden. Bald machten „Zukunftsforscher“

von sich reden, und wie

stets, wenn ein neuer Titel erfunden

worden ist, legten sich diesen auch allerlei

Möchtegern-Gelehrte zu.

So manches Phantasieprodukt,

das bislang als Utopie oder Sciencefiction

eingeordnet worden war, gerierte

sich nunmehr als futurologisches Forschungsergebnis.

Sah der eine „Forscher“

die Menschen im Jahr 1980 in

riesigen Unterwasserstädten leben,

wähnte der andere uns Heutige als Bewohner

von Mond- und Marssiedlungen.

Das vollautomatische Dienstmädchen

gehörte zu den Lieblingsthemen

der modernen Seher; ein Roboter für

die Hausarbeit, der gesprochene Anweisungen

entgegennimmt und nicht

nur putzt, wäscht und kocht, sondern

auch den Hund Gassi führt.

Hunger dürfte es längst

nirgendwo mehr geben, weil

in vollautomatischen, transportablen

Nahrungsmittelreaktoren

Eiweißstoffe aus prak-

tisch jeder organischen Substanz synthetisiert

würden, aus Unkraut, Gras,

Altpapier oder Kohle. Zudem dürften

Bewohner entlegener Gebiete ohne Infrastruktur

keine Transportprobleme

mehr haben, weil die Güter mit „Laufzeugen“

dorthin gebracht würden, Maschinen,

die, übergrossen Insekten

gleich, mit langen Beinen über Stock

und Stein staksen — tatsächlich sind

solche Geräte versuchsweise für den

Apollo-Mondflug konstruiert worden,

aber sie erwiesen sich als zu wacklig.

Bis 1976, so sah es das führende

US-Wirtschaftsmagazin „Fortune“ vor

25 Jahren, sollte es Wissenschaftlern

gelungen sein, das Blattgrün Chlorophyll

künstlich herzustellen, das Sonnenkraftwerk

der Pflanzen. Und atomare

Sprengsätze würden „friedlich“ für Erdarbeiten

verwendet, etwa um Hafenbecken

auszuheben.

Nicht viel besser als den Phantasten

erging es denen, die mittels wissenschaftlicher

Erleuchtung die Zukunft

aufzuhellen versuchten. So hatte der

weltbekannte amerikanische Biologe

Paul Ehrlich zum Beispiel 1969 mit mathematischer

Akribie errechnet, daß im

Jahre 1980 der Fischbestand der Meere

ausgerottet sein würde. Der Verkehrsexperte

Gabriel Bouladon vom

zukunftsorientierten Battelle-Institut

prophezeite im Oktober 1967: „Die letzten

Omnibusse — elektrisch betriebene

natürlich, wie von den um 1980 erlassenen

Umweltgesetzen vorgeschrieben

— werden bis 1990 verschwunden

sein.“ Statt dessen würden überall an

den Straßenrändern Selbstbedienungstaxis

stehen, die jeder mittels Kreditkarte

als Zündschlüsse! fahren und am

Ziel einfach stehen lassen kann. Aussehen

würden sie wie alle Autos um 1985:

durchsichtige Plastikwürfel einheitlicher

Größe auf winzigen Rädern; eine Super-

Computerzentrale fädelt sie in den

wie von Geisterhand gelenkten Verkehr

ein. „Keine Ampeln wird es mehr geben

und keinen Stau“, lautete die frohe Botschaft

des Schweizer Verkehrsexperten.

Für die rasch aufladbaren Wasserstoff-

Batterien dieser elektrisch angetriebenen

Fahrzeuge hatte Batteile

schon ein Patent angemeldet. Ebenso

für den Pneumatic Logic Tube Train, mit

dem Güter und Passagiere wie in Rohrpost-

Bomben durch ein gewaltiges

Röhrensystem gepustet werden – mit

Tempo 800.

Für die Luftfahrt hatte die Studie

besonders starke Leistungssteigerungen

ausgemacht. Danach müssten Linienflugzeuge

heute schon 16 000 Kilometer

in der Stunde zurücklegen.

Frankfurt – New York: ein Katzensprung

von 25 Minuten Dauer.

Alle Zukunftsexperten, selbst die

vorsichtigsten, waren vor 25 Jahren in

drei Punkten einhelliger Meinung: 1985

würden Fusionsreaktor-Kraftwerke fast

die gesamte Energieversorgung der industrialisierten

Welt übernommen haben,

würde Krebs eine harmlose, weil

heilbare Krankheit sein, und es würden

korrekte Übersetzungen von Texten

aus einer Sprache in die andere von

Computern angefertigt.

Wir wissen heute, am Ende der

achtziger Jahre, daß keine dieser drei

fraglos wünschenswerten Innovationen

Wirklichkeit geworden ist. Warum war

man sich vor einem Vierteljahrhundert

über ihr Eintreffen so sicher?

Weil alles darauf hindeutete. Die

Kernspaltung war schon erfolgreich gezähmt

worden; warum sollte dies nicht

auch mit der Wasserstoffbombe möglich

sein? Physiker wußten sogar

schon, wie dies zu bewerkstelligen sei.

Das für die Kernverschmelzung notwendige

superheiße Plasma, das jeden

materiellen Behälter augenblicklich zum

Verdampfen bringen würde, sollte in

„Flaschen“ aus magnetischen Feldlinien

eingeschnürt werden. Die Verwirklichung

des Fusionsreaktors war „nur

noch ein technisches Problem“; vor 25

Jahren gleichbedeutend mit „ein in absehbarer

Zeit lösbares Problem (dem

Ingeniör ist nichts zu schwör)“. Inzwischen

haben wir gelernt, daß auch die

Technik zuweilen an Grenzen des

Machbaren stößt. Noch ist es nicht einmal

im Experiment gelungen, ein Plasma

der geforderten Art annähernd so

lange aufrechtzuerhalten, wie es für die

Kernfusion benötigt wird.

D ie Anfangserfolge der Chemotherapie

gegen den Krebs waren

überaus ermutigend. Einige Krebsformen

sind kurierbar geworden. Doch die

spezifisch auf Tumorzellen wirkende

Chemikalie, die 1960 zum Greifen nahe

schien, zumal sich einige Substanzen

in Zellkulturen schon so verhielten, ist

bis heute nicht entdeckt worden.

Die Sprachübersetzung mit Computern

hatte schon damals eine lange

Tradition. Diese Hoffnung reifte gleich

mit den ersten Elektronenrechnern. Die

ersten Versuche, sie zu verwirklichen,

waren überdies vielversprechend. Vor

allem am Massachusetts Institute of

Technology (MIT) an der US-Ostküste

und in den Forschungslabors der amerikanischen

Bell-Telefongesellschaft

waren schon 1956 verblüffende Übersetzungseriolge

gelungen. Sie mußten

nur noch auf komplizierte Texte ausgedehnt

werden. Das aber ist bis heute

nicht geglückt.

Freilich haben die Bemühungen

um die Maschinen-Übersetzung einen

durchbruchartigen Erkenntnisgewinn in

den Sprachwissenschaften und einen

gewaltigen Innovafionsschub für die Informatik

gebracht. Einer hatte exakt

dies vorhergesehen, der Mathematiker

und Erfinder der Kybernetik, Norbert

Wiener. Er erklärte 1956 in einem Symposium

am MIT: „Ich glaube inzwischen,

daß MT (machine translation) für

die Linguistik das sein wird, was das

Gold der Alchimisten für die Porzellanmanufaktur

gewesen ist, eine vergebliche

Suche, mit unerwartet wertvollen

Entdeckungen.“

Gemeinsam ist den drei bislang

vergeblich erwarteten Innovationen,

daß es ihnen am rettenden Einfall gebrach.

Im nachhinein kommt uns manche

Erfindung so vor, als habe sie „in

der Luft gelegen“. Doch vorausschauend,

so scheint es, ist in der Luft

so recht nichts zu erkennen.

Einer, der davor nicht kapitulieren

wollte, war der deutschamerikanische

Mathematiker bei der RAND Corporation

in Kalifornien, Olaf Helmer. Er

machte sich mit „Delphi“ einen Namen,

einer speziell für Innovationen erdachten,

prognostischen Methode, die auf

der merkwürdigen Annahme beruhte,

daß Experten ein Gespür für zukünftige

Entwicklungen hätten und sich diese

individuellen Intuitionen zu verläßlichen

Vorhersagen verdichten ließen.

Doktor Helmer verschickte Fragebogen

an 150 Persönlichkeiten — Wirtschaftler,

Ingenieure, Mathematiker, Offiziere,

Betriebsberater, Physiker, Sozio-

logen und (fünf) Schriftsteller. 81 der

Angeschriebenen entsprachen der Bitte

des Mathematikers, „größere wissenschaftliche

Umwälzungen und Erfindungen

zu nennen, die Ihnen in den Sie

besonders interessierenden Gebieten

sowohl dringend notwendig als auch

innerhalb der nächsten fünfzig Jahre

realisierbar erscheinen“. Diese Angaben

wurden für eine zweite Fragebogenaktion

aufgelistet. Diesmal sollte jeder

angeben, für wie wahrscheinlich er

in welchem künftigen Zeitraum die Verwirklichung

der einzelnen Erfindungen

oder Durchbrüche halte.

Nachdem dies geschehen

war, wurden den Experten die meisten

Ergebnisse der zweiten Befragung mitgeteilt.

Nun sollten sie sich noch einmal

zu denjenigen zukünftigen Ereignissen

äußern, über deren Eintrittswahrscheinlichkeit

keine rechte Einigung zustande

gekommen war. Auch dies geschah.

Und nach einer vierten, weiterhin auf Einigung

abzielenden Befragung stellte

Helmer über sechs verschiedene Gebiete

Tabellen zusammen, die jeweils

ein Zukunftsbild zeichneten.

Ob diese Delphi-Technik Licht in

das Dunkel der Zukunft bringen würde

— Helmer selbst äußerte sich hoffend,

jedoch nicht ohne Zweifel darüber. Inzwischen

sind zwanzig Jahre vergangen,

und so hat sich ein Teil jenes Dunkels

zur Gegenwart und Vergangenheit

aufgehellt. Manches traf ein, zum Beispiel

die für die Jahrzehntwende 1970

vorausgesagte Entwicklung der Antibabypille.

Zahlreich aber sind auch die

Nieten. Der schon erwähnte automatische

Dolmetscher sollte selbst nach

Meinung der vorsichtigsten unter den

Experten spätestens 1978 seine Arbeit

aufnehmen Wirtschaftlich tragbare

Meerwasserentsalzung müsste es seit

zehn Jahren geben, ebenso synthetische

Baustoffe für eine ultraleichte Bauweise.

„Zuverlässige Wettervorhersagen“

waren mit größter Wahrscheinlichkeit

für 1985 angesagt, auf dem Gebiet

der Wetter- oder gar Klimakontrolle

müsste sich inzwischen auch schon etwas

tun, eine „Revision der physikalischen

Theorien“ – ein neuer Einstein?

– war für 1980 erwartet, und eine „zentrale

Informationsbank“ wäre in drei

Jahren fällig.

Nein, dieses Delphi war kein gutes

Orakel. Nigel Calder, der etwas früher

als Helmers Aktion in der englischen

Wissenschaftszeitschrift „New Scientist“

Wissenschaftler über die Zukunft

spekulieren ließ, hatte zwar keine bessere,

aber auch keine schlechtere Trefferquote.

Statistisch gewertet, war sie in

beiden Fällen gleich Null.

Die Vorstellungskraft, auch die von

Experten, hilft offenbar wenig, wenn es

gilt, das Morgen zu ergründen, weil wir

Gefangene des Heute sind. Alle futurologische

Intelligenz in der Blütezeit der

Zukunftsforschung sah weder die damals

nahe bevorstehenden Energiekrisen,

noch die weltweite Arbeitslosigkeit

voraus. Selbst auf den Taschenrechner

war keiner gekommen. Hingegen errechnete

der prominenteste Futurologe,

Hermann Kahn, aus einer Fülle von Daten,

daß Frankreich in den achtziger

Jahren zur führenden Weltmacht würde,

daß sich ein nie zuvor gekannter Wohlstand

über den Erdball verbreite, in

dem nur noch wenige, denen es halt

Spaß mache, arbeiteten, während sich

die anderen dem Genuß eines permanenten

Studiums und anderen kulturellen

Freuden hingäben.

Die Analyse der damals prophezeiten

Innovationen zeigt, wie leicht

wir sich anbahnende Entwicklungen

überschätzen. Der Harvard-Psychologe

Skinner hatte mit einer Lernmaschine

experimentiert, einem Mechanismus,

der dem Schüler den Lehrstoff portionsweise

unter einem kleinen Fenster

zu lesen gab. Jeder dieser Lehreinheiten

folgten Fragen, die mit Knopfdruck

für „ja“ oder „nein“ zu beantworten waren.

Skinner schwebte vor, mit solchen

Apparaten jedem Lernenden die Möglichkeit

zu geben, sein Lerntempo

selbst zu bestimmen. Skinners Slogan:

Ein Privatlehrer für jedes Kind.

Geschäftstüchtige Leute griffen die

Idee rasch auf. Erziehungswissenschaftler

verfeinerten die Methode, bald

war die pädagogische Revolution geboren:

programmiertes Lernen. Für die

Zukunftsdeuter war damit die Richtung

klar. Nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene

würden in naher Zukunft an

Lernmaschinen geradezu spielend und

darum mit Wonne so viel lernen wie

keine Generation zuvor. Das englische

Schlagwort, weltweit im Munde geführt,

hieß permanent education.

Skinners Apparat klappert in keinem

Klassenzimmer mehr, der Traum

vom automatischen Privatlehrer ist verflogen;

geblieben ist der computergestützte

Unterricht, dessen Name freilich

weitaus mehr verspricht als die Realität

hält. Und die Mehrheit der Menschen

gibt sich in den achtziger Jahren der

Unterhaltung durch das Fernsehen hin

statt der Lust am lebenslangen Lernen.

Wer nicht wie einst Hitler an die

Vorsehung oder wie Wallenstein an ein

in den Sternen festgeschriebenes

Schicksal glaubt, weiß nur zu genau,

daß Zukunft prinzipiell unerfahrbar und

darum Künftiges nur in dem Maße vorhersehbar

ist, indem es durch wohlbestimmte

Kausalketten mit gegenwärtig

erkennbaren Prämissen verknüpft oder

von unverkennbaren Entwicklungslinien

gekennzeichnet ist. Dieses Maß freilich

ist in den allermeisten Fällen recht dürftig.

Selbst das Wetter, immerhin ein

physikalischer Vorgang, unbeeinflußt

vom kapriziösen Verhalten der Menschen,

läßt sich allenfalls für drei, vier

Tage schlecht und recht vorhersagen.

Ein bißchen zuverlässiger sind allerdings

die Meteorologen geworden,

seitdem ihre Arbeit von Satellitenbildern

unterstützt wird. Waren sie bis dato

weitgehend auf — viel zuwenig —

Meßdaten angewiesen, von denen Kausalitätsketten

abgeleitet werden mußten,

haben sie nunmehr Gelegenheit zu

Trendanalysen. Das Hoch, das sich —

auf dem Satellitenfilm deutlich sichtbar

– nach Südosten bewegt, wird nicht

abrupt seine Richtung ändern, sondern

seine Reise in den kommenden Stunden

fortsetzen. Für Unsicherheit aber

sorgen  die heute noch nicht auszumachenden

Trends, die morgen schon

entscheidend für das Geschehen sein

können. Sie gleichen den innovativen

Entwicklungen im stillen Bastelbüdchen

oder hinter verschlossenen Labortüren

konkurrenzfürchtender Firmen.

Den Mikroprozessor hat niemand,

der nicht an seiner Entwicklung

beteiligt war, vorausgeahnt. Er kam, sah

und siegte auf der ganzen Linie. Eine

Weile war dann das Prognostizieren

einfach. Daß Computergenerationen in

kurzen Zeitspannen aufeinanderfolgen

würden, jede leistungsfähiger, bedienungsfreundlicher,

billiger, kleiner und

schneller als die vorige — jeder in der

Branche las dies an weit in die neunziger

Jahre projizierten Kurven in seiner

Fachzeitschrift ab. Beliebt wurden die

Graphiken, welche die Komplexität der

Bauelemente mit den Jahren ihrer

Markteinführung in Beziehung setzten.

Auf der Y-Achse die Speicherfähigkeit

von integrierten Schaltungen, logarithmisch

aufgetragen von null bis zehn

Millionen Bits; auf der X-Achse die Zeit

von 1960 bis zum Jahr 2000. Die Kurve:

eine Gerade, die im Winkel von 45 Grad

emporsteigt. Ihr unteres Ende: die

Realität. Doch ob sich die künftige Entwicklung

so linear weiterentwickeln

würde, ist die schlichte Frage, die Prognostiker

gerne ignorieren.

Der Schwung, den solche Schaubilder

noch vor acht Jahren suggerierten,

ist keineswegs verpufft. Nur sind

die Erwartungen konservativer geworden.

Neue, hyperkomplexe elektronische

Komponenten zu entwickeln kostet

viel Geld. Ein einziger Flop kann

eine Firma an den Rand des Ruins

bringen. Zu so einem fatalen Versager

mag es aus dem banalen Grund kommen,

daß die Nachfrage für das entwikkelte

Produkt falsch eingeschätzt worden

ist.

Wie sehr sich sogar versierte

Fachleute über die Akzeptanz von neuen

Produkten täuschen können, erfahren

innovative Unternehmen allenthalben.

Der vom Erfolg so sehr verwöhnte

Polaroid-Konzern hatte riesige Summen

in ein Projekt gesteckt, von dem

jeder hatte glauben müssen, daß es zu

einem wahren Renner werden müsse,

den Polaroid-Kinofilm. Wie bei den stehenden

Buntbildern der beliebten Sofortbild-

Kamera sollten nun auch die

Filmer ihr Werk schon ein paar Minuten

nach der Aufnahme betrachten können.

Als diese Entwicklung in Angriff genommen

wurde, waren die elektroni-

sehen Kameras und Videogeräte allenfalls

für Fernsehanstalten erschwinglich.

Daß deren Preise einmal drastisch

sinken könnten, galt als ausgeschlossen.

Doch sie purzelten und taten dies

just zu dem Zeitpunkt, da Polaroids

nicht gerade billiges Sofort-Kinofilm-

System marktreif geworden war.

Die Bildplatte stand aus dem gleichen

Grund — zunächst – auch unter

keinem guten Stern. Gerettet wurden

die Entwicklungskosten von den CDSchallplatten,

von denen sich der Innovator

anfangs nichts versprochen hatte.

Der CD-Idee steht allerdings bereits

der nächste Konkurrent ins Haus, der

digitale Kassettenrecorder. Sein Vorteil:

Er kann die Musik nicht nur abspielen,

sondern auch aufnehmen.

Noch vermag niemand abzuschätzen,

ob der Bildschirmtext der Deutschen

Bundespost einmal zu den erfolgreichen

Innovationen der achtziger

Jahre gezählt werden wird. Computernetze,

innerbetriebliche wie weltumspannende,

haben sich längst durchgesetzt,

sind lebenswichtig für die moderne

Wirtschaft und die wissenschaftlichen

Zentren unserer Tage geworden.

Für den Informationstransfer also besteht

nach wie vor großer Bedarf. Doch

ob er bis in die Privatwohnung reichen

soll, ist kaum abzuschätzen. Das Bankgeschäft

an der Tastatur, der Warenhauskatalog

auf dem Bildschirm, Anzeigen

auf dem Monitor, die sowieso in

der Zeitung stehen, und Nachrichten,

die man am Fernsehen ohnehin vorgelesen

bekommt — das alles ist nicht

sonderlich attraktiv.

Datenbanken, die nicht nur professionellen

Benutzern zur Verfügung stehen,

das laufend aktualisierte elektronische

Konversationslexikon etwa, werden

dort, wo sie schon angeboten werden

— Beispiel USA —, von Privatpersonen

kaum benutzt. Wer weiß, vielleicht

überschätzen wir den Wissensdurst

unserer Mitmenschen.

Veteran auf der Liste der zu erwartenden

technischen Neuerungen ist

das Telefon, an dem der Teilnehmer

vom anderen Ende nicht nur zu hören,

sondern auch zu sehen ist. Kaum war

die Braunsche Röhre für das Fernsehen

entdeckt, konnten Besucher der

Berliner Funkausstellung 1934 per Bildtelefon

miteinander kommunizieren. Bis

heute aber ist es ein Ausstellungsspektakel

geblieben. Viel Hoffnung besteht

für den technischen Ladenhüter wohl

nicht mehr. Wer Abend für Abend Menschen

am Bildschirm betrachtet, findet

Gesprächspartner auf der Mattscheibe

nicht mehr sonderlich sehenswert.

Sind zur Zeit entscheidende technische

Innovationen in Sicht? Nach allem

Gesagten mag diese Frage absurd

klingen. Gestellt werden aber muß sie,

jeden Tag auf’s neue, von Industrie,

Wirtschaft und Politik, so wenig zuverlässig

auch die Antworten ausfallen

mögen. Freilich beziehen sich die wichtigen

Voraussagen ohnehin auf nicht

allzu große Zeiträume. Und da ist es

halt wie mit der Wetterprognose — je

kurzfristiger, desto brauchbarer.

Die folgenreichsten technischen

Veränderungen hat unser Jahrzehnt auf

dem Gebiet der High-Tech erlebt, und

dies wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit

noch eine Weile fortsetzen. Vor

allem die Robotik dürfte erst am Anfang

ihrer Entwicklung stehen. Daß es mit

den Robotern anfangs so schleppend

vorwärts ging, hatte einen unerwarteten

Grund: Es stellte sich heraus, daß nicht

etwa die Tätigkeiten, die uns ais besonders

hochwertig vorkommen, nämlich

die vom Großhirn gesteuerten wie das

Rechnen oder logische Schließen, die

größten Schwierigkeiten bei ihrer

maschinellen Simulation bereiten. Als

widerspenstig erweisen sich gerade

die Fähigkeiten, die aus den alten Regionen

des Denkorgans gespeist werden,

so simple Dinge wie Handbewegungen,

das Laufen oder das Erkennen

einfacher Formen. Hier aber hat die

Technik enorme Fortschritte gemacht.

In Sicht ist zum Beispiel der Roboter für

den Warenversand. Er wird uneinheitlich

geformte Gegenstände optimal in

einem Laderaum stapeln können. Für

die Texterfassung für Datenbanken und

Verlage sind Lesemaschinen vonnöten,

die nicht nur auf ein paar Schrifttypen

und -großen fixiert und nicht so fehleranfällig

sind wie die gegenwärtig angebotenen

Geräte.

Als Ende der fünfziger Jahre die

ersten Computer verkauft wurden,

konnten nur Programmierer mit ihnen

umgehen. Kein Wunder, daß Utopisten

wähnten, bald würde jeder Mensch die

Kunst des Programmierens beherrschen

müssen. Es ist anders gekommen.

Computer stehen in fast jedem

Büro und werden von Personen bedient,

die nicht einmal eine vage Vorstellung

von einem Computerprogramm

haben. Gerade in den letzten

Jahren sind die Rechner mehr und

mehr der Bequemlichkeit des Benutzers

angepaßt worden. Was einer zu

tun hat, um die Maschine zu der einen

oder anderen Tätigkeit zu bewegen,

tippt er in gewöhnlicher Umgangssprache

auf die Tastatur. Und wo der Kürze

halber bestimmte Befehle mit einem

Tastendruck gegeben werden müssen,

wird dem Benutzer ausführlich am Bildschirm

erklärt, was er zu tippen hat.

Einfacher wäre es nur noch, wenn wir

dem Gerät sagen könnten, was es tun

soll. Solche Sprachein- und -ausgäbe

ist im Prinzip ein seit langem gelöstes

Problem. Im Jahre 1956 führte Claude

Shannon am Bell-Laboratorium staunenden

Besuchern vor, wie er sich mit

einer Maschine unterhielt. Doch nur er

wurde von dem Apparat verstanden,

und auch nur, wenn er nicht gerade eine

Erkältung hatte.

D iese Unzulänglichkeit plagt die

Speechprocessor-Spezialisten immer

noch. Mit dem Sprechen hat der entsprechend

ausgestattete Computer

kein Problem mehr. Sein Dialekt ähnelt

immer weniger den blechernen Science-

fiction-Stimmen. Aber es fällt ihm

schwer, die sprachbestimmenden

Formanten aus dem Frequenzgemisch,

das unsereiner von sich gibt, herauszufischen.

Zu allem Überfluß sind diese

auch noch von Sprecher zu Sprecher

so verschieden wie Fingerabdrücke.

Daß wir überhaupt einander verstehen,

grenzt an ein Wunder. Dieses jedoch

glauben Ingenieure auch an Maschinen

vollbringen zu können. Kurze gesprochene

Befehle zum Beispiel befolgen

experimentelle Geräte in den Labors

der Industrie schon recht akkurat.

Als Computer noch ganze Stockwerke

füllten, wurden sie gerne „Elektronengehirne“

genannt, und Philosophen

beschäftigten sich mit der Frage,

ob eine Maschine ein Bewußtsein haben

könne. Der Gedanke, die rechnenden,

logisch schließenden und in begrenztem

Rahmen gar lernenden Automaten

müssten Ähnlichkeit mit dem

menschlichen Gehirn haben, lag nahe

und inspirierte Wissenschaftler, sich

über künstliche Intelligenz Gedanken

zu machen. Inzwischen sehen wir Elektronenrechner

viel nüchterner, aber das

Forschungsgebiet „Künstliche Intelligenz“

ist geblieben. Sein Name hat zu

Mißverständnissen auch unter Fachleuten

geführt. Manche eher abenteuerlichen

Versuche, etwa das Bestreben,

ausgerechnet in der psychiatrischen

Sprechstunde einen Computer als Therapeuten

einzusetzen, nagten am guten

Ruf der neuen Disziplin. Doch sie hielt

sich wacker und brachte inzwischen

außerordentlich nützliche Programme

hervor, die „Expertensysteme“.

Die Idee, Expertenwissen so zu

speichern und zu strukturieren, daß es

von denen, die Expertenrat benötigen,

abgerufen werden kann — sogar mit

nicht sonderlich präzisen Fragen -,

lag nahe. Ihre Ausführung stellte extrem

hohe Ansprüche an die Programmierer.

Expertensysteme für Ärzte, für Computerbenutzer,

für die Reparaturcrew auf

einer Ölbohrinsel oder für Laboranten

in Forschungsinstituten haben sich

längst bestens bewährt. Dennoch

steckt die Entwicklung noch in den Kinderschuhen.

Expertensysteme, die lernen

und sich deshalb in der Praxis laufend

selbst verbessern können, stehen

auf dem Forschungsprogramm. Wer

hier für die nahe Zukunft beachtliche

Fortschritte prognostiziert, wird kein allzu

großes Wagnis eingehen. In der Medizin

steht die Entwicklung des Aids-

Impfstoffes bevor, für die saubere Umwelt

stehen allerlei neue Abgasfilter auf

dem Programm, und Gott weiß, was die

Kriegsindustrie in aller Welt ausbrüten

wird. Qui vivra, verra.

 

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